Bayerischer Wald-Verein Sektion Lindberg-Falkenstein
Bayerischer Wald-Verein Sektion Lindberg-Falkenstein

Zu Gast im Wildness-Camp

 

Von Karl-Heinz Reimeier

„WaldZeit e.V.“ – engagierter Kooperationspartner des Nationalparks Bayerischer Wald, gibt für den 50. Geburtstag des „Parks“ das Projekt „Thoreau 2.2“ aus, eine „klasse“ Idee: fünf Tage allein sein im Wildnis Camp am Falkenstein. Allein in einer bescheidenen Hütte aus Holz, allein mit Bleistift und Papier, ohne Strom, allein mit sich und der Welt. Nicht irgendeiner Welt. Die Welt, in die ich mit begebe, ist eine ganz besondere, sie besteht ausschließlich aus „Natur“, soweit das Auge reicht. 


Darauf wollte ich mich einlassen: innehalten – nachdenken – schauen –träumen – erinnern – schreiben. 

So und nicht anders kam es dann auch. Das ständig wechselnde Schauspiel auf der „Bühne“ vor dem Fenster der Thoreau-Hütte sowie die erwachenden Erinnerungen rundum den Nationalpark und seine Idee gestalteten den Aufenthalt abwechslungsreich und spannend. Und – äußerst angenehmes Nebenprodukt: Zeit spielte keine Rolle mehr. 

Im Farnfeld geht`s rund

Soweit ich sehen kann: Farn. Dazwischen, auf dünnen und dickeren Stämmchen, Vogelbeerbäume und Birken, mehr Vogelbeere als Birke. Die Vogelbeeren strotzen vor Eifer mit ihren tiefroten Büscheln, viel orange, meistens rot. Ende August, deswegen! Die Farne zu ihren Füßen, ordentlich in Reih und Glied verharrend, schweigen. Manchmal bringt sie ein leichter Wind aus der Ruhe, bewegt sie in gleichbleibendem Rhythmus, sodass sich das gesamte Farnfeld leicht zur Seite neigt, aufrichtet, neigt, aufrichtet. Ein ansprechend feines Musikstück lang. 


Was die Meise aber nicht stört. Sie hat sich niedergelassen auf einem angebräunten Farnwedel, sie schaukelt mit. Hier eine und dort noch eine, immer mehr. Ein quicklebendiges Hin und Her, Rummelplatzstimmung vor meinem Fenster: Zusteigen – aussteigen – umsteigen in flatterndem Wechsel. „Wer hat noch nicht? Wer will noch mal?“


Vor meinem Fenster – ja, vor meinem Fenster, in der Thoreau-Hütte, nicht am Walden-See in Massachusetts, sondern im Wildnis-Camp am Falkenstein, nicht mit Blick auf die wogenden Wellen entlang des Walden-Ufers, dafür mit Blick auf das wogende Grün der Farnwedel, die, je nach Laune des Windes, Fischerboote und Segelschiffe mit rot-orangen Segeln an schwarz-weißen Mastbäumen am Horizont auf- und untertauchen lassen. 


Die Meisen huschen, den Möwen gleich, nein, viel, viel flinker, über das wogende Farnenmeer, tauchen ein in das undurchdringliche Dickicht, federleicht und in totaler Spielfreude, kurz weg, schnell da, machen sich die schönsten Plätze streitig, um dann, nur wenige Augenblicke später, Ast für Ast, akrobatisch und in Windeseile die Vogelbeere hochzuklettern, bis ganz nach droben, um von dort oben beste Aussicht zu genießen. 
Ich kann nicht anders, ich muss mich dazusetzen, will mich auch an dem Rundumblick erfreuen und – ich will Ausschau halten. Ausschau? Nein, nicht nach den Radfahrern, die in kleineren und größeren Gruppen, selten allein, auf den Wanderwegen vorbeihuschen, mühelos mit aufgeladenen Akkus am Fahrradrahmen; auch nicht nach den Wanderern, die, rucksackbepackt und zügigen Schritts fort- oder heimgehen – aber wonach dann? Ich will Ausschau halten nach der Zeit. Ich will der Zeit nachspüren, der gegenwärtigen zuerst, dem Sein im Jetzt, hier in der Thoreau-Hütte, herausgestiegen aus dem Gewohnten, eine knappe Autostunde entfernt nur vom Alltag, entfernt von Nachrichten aller Art (kein Handy-Empfang!), entfernt von den Menschen, von den Discountern und Märkten, von Gesprächen und Floskeln, von den gewohnten Straßen und Häusern, von Oberflächlichkeiten und von gespielten Lebensrollen. Weg – je mehr sich der Tag neigt, umso mehr, weg und allein, allein unterm Berg und zwischen den Bäumen. Allein. „Du!“, sage ich zu mir, „du wolltest das so, du wolltest das immer wieder so, du wolltest das schon lange so!“ Ich verspüre, wie sich leichte Unruhe bemerkbar macht und ich weiß, ich bin noch nicht an diesem Punkt, an diesem Wendepunkt, der frei macht. Ich bin noch nicht eins mit der Welt um mich herum, ich spüre das deutlich, wir – die Hütte im Innern, das Drumherum draußen – wir sind noch nicht im Dialog. Abwartend selbst die Bäume, die Sträucher, die Vögel, die Käfer, Vorsicht vor dem Eindringling, der die Hütte besetzt, stundenlang aus den Fenstern lugt, der mal nickt mit dem Kopf, als würde er verstehen, dann wieder den Kopf schüttelt, als wolle er aufgeben, der die Stirn in Falten legt, der grübelt und dann und wann Notizen macht. 
Plötzlich, von einem Moment auf den andern, fällt Ruhe in den Wald, eine Ruhe, die durch das Fenster hindurch sichtbar wird. Das letzte Auto verlässt das Camp, der letzte Wanderer verschwindet hinter den Bäumen. Ich gehe vor die Hütte und schaue in den klaren, wolkenlosen Himmel. Nichts! – Doch! Ja, doch! Ein Summen, ein leises Summen! Es ist nicht zu überhören, stört aber nicht, ist auch schon wieder weg. Fernes Brummen noch – ein Flugzeug. Weit, sehr weit entfernt, leiser werdend, immer leiser. Um mich herum absolutes Schweigen. Die Gräser stehen still, die Farne, die Blätter an den Buchen und Birken – wie für die Ewigkeit eingefroren. Ein tiefes, langes Einatmen – etwas wie „Luft anhalten“. 
Ich höre keine Musik mehr zwischen und über den Bäumen, wie sonst immer, kein Singen, keine Geigen. Wo sind die Töne hingekommen, die Melodien?


Es dämmert. Der Wechsel vom Tag zur Nacht ist in vollem Gange. Täusche ich mich? Drehen sich da nicht die Farne mit dem Licht der untergehenden Sonne um ihre eigene Achse? Ich täusche mich nicht. Sie drehen sich in meine Richtung, schauen zum Fenster herein, neugierig, wer das wohl ist, der die Nacht mit ihnen teilt.
Wir gewöhnen uns aneinander.


„Thoreau“ im Kopf

Die erste Nacht im Camp – die erste Nacht allein. Kein Mensch mehr in den Hütten. Um mich herum nur noch die immer mehr ins tiefe Schwarz eintauchende Natur. Schnell gewöhne ich mich daran. Da ist nichts Beängstigendes, ganz im Gegenteil, die mit zunehmender Finsternis anwachsende Lautlosigkeit tut gut. 

Diese erste Nacht verbringe ich mit Henry David Thoreau, ohne das fest eingeplant oder besonders forciert zu haben. Er ist einfach da. Kein Wunder, steht das gesamte Projekt ja unter seinem Namen, kein Wunder, hier, inmitten des Nachbaus seiner Blockhütte, dessen Original er vor nun gut einundeinhalb Jahrhunderten gebaut hat, allein, mit eigenen Händen, um darin zu leben, um ein anderes Leben auszuprobieren, ein Leben mit einfachsten Mitteln, mit Experimentieren, mit viel Denken und mit viel Schreiben. Weg von den Zwängen des Alltags, denen man in der Stadt, im Beruf, unter Menschen ausgeliefert ist. Und er zieht das durch über zwei Jahre lang, konsequent und mit aufschlussreichen Ergebnissen, nicht völlig abgeschirmt von der Welt, wie man meinen könnte, sondern doch nahe der Stadt, wohin er zum Einkaufen geht und wo er die Ernte aus seinem Garten gegen andere Lebensmittel eintauschen kann. Absolute Kontaktlosigkeit braucht er für sein Vorhaben nicht. 

Es ist schon faszinierend, was er so alles versucht und untersucht, wie er es zum Beispiel schafft und auch nachweisen kann, dass man in sechswöchigem intensivem Einsatz für den Lebensunterhalt eines ganzen Jahres vorsorgen kann. Kaum zu glauben. Dass er auf größere Ansprüche, lebensunwichtige Nebensächlichkeiten keinen Wert legt, wird beim Erlesen seiner Gedanken schnell erkennbar. 


Lesen, nachdenken, philosophieren. Die Aufzeichnungen des Alexander von Humboldt liest er mit großem Interesse, die Natur rundherum um seine Hütte beobachtet er äußerst genau, schreibt auf, was er sieht, schreibt auf, wie sich etwas entwickelt, hält aufs Gramm fest, was er zum Leben benötigt, dokumentiert und kommentiert aber auch all das, was die Gesellschaft seiner Zeit und ihn selbst bewegt. Die menschenunwürdige Sklaverei zum Beispiel. Er scheut sich nicht, Menschen zur Flucht zu verhelfen. Beeindruckend die Energie, mit der er sich dem Kampf gegen diese Sklaverei und für die Respektierung der Indianer stellt. Er befasst sich mit dem Einfluss und der Wirkung der Medien, mit dem Eisenbahnbau und ganz viel mit der vorherrschenden sozialen Ungerechtigkeit.  
Sein Buch „Walden oder Leben in den Wäldern“ findet große Beachtung innerhalb der Literaturgeschichte und ist heute, in Zeiten anwachsenden Klimabewusstseins, verstärkter Klimadiskussionen, vermehrter Klimademonstrationen aktueller als je zuvor. Thoreau wird oft und gerne zitiert. 


Es ist schon beachtenswert, wie Thoreaus geschriebenes Werk nach einer aufkommenden Blütezeit bereits Ende der sechziger Jahre im letzten Jahrhundert in unserer jetzigen Zeit eine erneute Wiedergeburt erleben darf. Rezensionen werden geschrieben, Umfragen, Gesprächsrunden finden statt, selbst im Fernsehen wird er zum Thema gemacht, und das nicht nur in umweltpolitischen, sondern auch in literarischen Sendungen. Seine Schriften, Beobachtungen, Schlussfolgerungen finden große Anerkennung. Im Widerstreit der Philosophen, Autoren und Literaturkritiker wird sein Buch als „Grundlagenwerk“ anerkannt.


Bei diesem großen Interesse, das Thoreau mit seinem literarischen Nachlass entfacht, bleibt es nicht aus, dass auch der „Mensch“ hinterfragt wird, der überaus gebildete und in verschiedenen Kulturen äußerst bewanderte Mensch, der mit seinem Aufruf zum zivilen Ungehorsam und gewaltlosen Widerstand so außergewöhnlich starke und bemerkenswerte Menschen wie Mahatma Gandhi und Martin Luther King beeinflusst hat.
Manche Kritiker suchen das Widersprüchliche in seiner Figur, wovon sich einiges bei der Lektüre seines umfangreichen Werkes offen zeigt, wenn Charaktereigenschaften sowohl des fleißigen und geschickten Handwerkers, des exakt recherchierenden Wissenschaftlers, als auch des mahnenden „Oberlehrers“ sichtbar werden. 


Einen guten Freund und Gönner hat Thoreau, den studierten Theologen Ralph Waldo Emerson, auf dessen Grundstück er besagte „Hütte“ errichten durfte. Emerson reist als Prediger einer unitarischen Kirche durch das Land, was er aus Gewissensgründen wieder beendet. Durch seine Vorträge und Predigten wird er zum geistigen Kopf einer kulturellen und sozialen Reformbewegung, der sog. „amerikanischen Renaissance“. Er kennt Thoreau gut, kennt ihn sehr gut, was die Aufzeichnungen über seinen Freund aus dem Jahre 1862 deutlich zeigen (Auszüge): „Wenn er mit anderen Menschen zusammen war, widersprach er ihnen fortlaufend…Sein Wissen über die Geheimnisse der Natur war umfassend…Er durchdrang das Thema eines Gesprächs sofort und erkannte die Schranken seiner Gesprächspartner…Er kannte keinen Respekt vor den Meinungen anderer Personen oder Parteien und huldigte ausschließlich der Wahrheit selbst…“. (2) Die Wahrheit! Ach ja, die Wahrheit. Dazu hat der Philosoph Martin Heidegger, der mich in diesen Projekttagen als Ausgleichslektüre begleitet, natürlich auch seine Meinung: „Wer nach Wahrheit verlangt, zwingt das Leben unter das Kommando seiner Einsichten“. (3)


Dass sich, nachdem man von Emersons Aussagen weiß, Thoreau im Umgang mit Menschen nicht leichttut, kann man verstehen. Er leidet darunter. Sein unabdingbarer Drang nach Wahrheit aber lässt länger andauernde Freundschaften nicht zu. 


Thoreaus Leben – damals wie heute – ein Leben in Widersprüchen. Geblieben ist bei allem Für und Wider über seine Person das übergeordnete Thema seines Handelns und Schreibens, das Martin Ebel, deutscher Autor, Literaturkritiker und Redakteur, folgendermaßen auf den Punkt bringt: „Der Mensch, der am wenigsten hat, ist der reichste. Das einfachste Leben ist das beste!“ (4) Damit trifft er selbstverständlich auch in unserer Zeit wieder auf Befürworter und Gegner. 


Meine Nacht mit Thoreau – eine schlaflose Nacht. Dieser Mensch, sein Denken, seine Aussagen, seine Überzeugungen gewinnen inmitten der Finsternis in der Hütte zunehmend an Gewicht. Das unbeugsame und nach vollkommener Wahrheit strebende Leben, dem alles untergeordnet ist – manchmal sogar der Mensch, eine Radikalität, die Schlaf kaum zulässt.  

Draußen vor der Türe

Weit nach Mitternacht ist es geworden. Der Gang vor die Türe steht an. Hinaus aus der Stube. Wieder einmal. Der Gang vor die Türe, das wird mir von Mal zu Mal mehr bewusst, entwickelt sich zum Ritual, wird wichtig, wird nötig, um ab- und umzuschalten im Kopf, um in klarer Luft die Gedanken zu ordnen, die sich allzu gerne hinter die vage Undurchdringlichkeit der nächtlichen Schatten verlaufen möchten. Hinstellen unter den Sternenhimmel, Weite spüren und Unendlichkeit, Wichtiges erahnen und Belangloses aufdecken, Leben spüren, sich selber spüren. Auch aus diesem Grunde bin ich hier an diesem gar so besonderen Ort. Und – manchmal hilft es tatsächlich, das Dach über der Stube auszutauschen mit dem Dach über der Welt, um der Enge zu entfliehen, um durchzuschnaufen und Freiheit einzuatmen.  


Ich spüre die Kälte der späten Augustnacht. Thoreau, der mich so fest im Griff hatte, zieht sich zurück. Er hinterlässt keine Leere. Meine Gedanken wenden sich beinahe zeitgleich zurück an die Tage und Wochen, als ich noch zu Hause war, als das Thema „Thoreau“ und „Schreiben in seiner Hütte“ sich erst allmählich verdichteten, als die Gedanken aber immer wieder vorauseilten und bereits Wochen vor dem Einzug in die Hütte den Platz am Schreibtisch dort einnahmen. Damals, als bei meinen ersten Erkundungen und Nachfragen die Aussprache des Namens „Thoreau“ unterschiedlich gehandhabt wurde, als ich feststellen konnte, dass kaum jemand aus meinem Bekanntenkreis den Namen „Thoreau“ überhaupt schon jemals gehört hatte, als sich der unbedingte Vorsatz einstellte, jeden Gedanken, der dem Thema nützlich sein könnte, sofort schriftlich festzuhalten, um ihn vor dem Entfliehen zu retten, als das Unbekannte der kommenden fünf Tage Fragen aufwarf, in etwa, wie man am besten mit der Situation „Arbeiten und Schreiben ohne Strom“ umgehen könnte, ohne die gewohnte Unterstützung durch irgendwelche technischen Hilfsmittel! Durchstreichen, Entfernen, Einfügen, Umändern, Löschen – wie in alten Zeiten! Dann aber, im Gegenzug, zusehen können, wie die Wörter, aus der Hand geformt, Gestalt annehmen, zeilenlang, zusehen können, wie Form und Gehalt von Wörtern und Sätzen im Schreibschwung „eins“ werden. Zweifel und Vorfreude, die beide, gleichermaßen, die Spannung für die Aufgabe ansteigen lassen. 

zurückgedacht 

Hier sitze ich wieder, genau wie gestern, den ganzen Nachmittag bereits, hinter dem sechsscheibigen Fenster und schaue hinaus auf das Farnfeld, das heute seltsamerweise überhaupt nicht einem im Wind wogenden Meer gleicht, sondern einfach nur ein Farnfeld ist, nichts weiter, das sich zwar leicht hin und her bewegt, aber bei Weitem nicht mehr so rhythmisch und tänzerisch wie noch am gestrigen Tag. Ich sehe den abgebrochenen Ast an der Vogelbeere zum ersten Mal, der schräg durch das Bild vorm Fensterrahmen hängt und plötzlich die Idylle stört. Ich sehe einen geknickten Zweig, der sich in der Krone verfangen hat und einen weiteren, der unwirklich in den Himmel hineinsticht. Die Wirklichkeit hat Platz genommen auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch! Meine Augen sehen heute anders, schauen heute anders. Sie nehmen keine schaukelnden und tänzelnden Meisen wahr. Ruhe im Farngeflecht, keine beruhigende Ruhe, eine nachdenkliche, eine fragende Ruhe. Die Farne drehen sich ab, langsam, alle auf einmal, ziehen meinen Blick mit, es ist, als wollten sie mich entführen, und ich merke, wie sich die Zeit zurückdreht, wie Jahrzehnte vorbeiziehen. 


Relativ rasch konkret werdend erinnere ich mich an die sehr aufregende Zeit in meinem Leben, als der Borkenkäfer die Berge kahlfraß, als der Begriff „Natur Natur sein lassen“ zu heftigsten Wort- und Streitgesprächen führte und ich mich mitten drinnen befand. Der „alte Wald“ verlor damals sein gewohntes Gesicht, war nicht wiederzuerkennen. „Was wächst denn noch? Schau hin! Was wächst denn da noch? Vogelbeere und Farne! Und das soll ein Wald sein!“ Diese manchmal überlauten Vorwürfe haben sich festgesetzt in meinem Kopf. 


Es ist nicht so, dass ich die Leute nicht verstanden hätte. Der äußere Anblick, das gewaltige Sterben, das tat weh und es bedurfte auch von mir aus intensiven Nachdenkens und Nachlesens und Recherchierens und Diskutierens und „Vorortgehens“, um der Hoffnung habhaft zu werden, die sich in dem Wandel von einem Wirtschaftswald in einen mehr oder weniger „wilden Wald“, oder „Urwald“ erkennen ließ.
Und nun sitze ich hier inmitten dieses Wildnis-Camps des Nationalparks, umgeben von der damals so häufig als „minderwertig“ angesehen Vogelbeere, inmitten der abfällig bewerteten Farne und erfreue mich an ihnen, an ihrem Wuchs, ihrer Farbe, ihrem Leben, an ihrer Ausstrahlung. Ich freue mich an der neu gewonnenen, wieder gewonnenen Vielfalt und ich erinnere mich gerne an das Gedicht, das ich „damals“ in der aufgewühlten Zeit zur Ehrenrettung der Vogelbeere aufgeschrieben habe:

auf dem boden liegend
entwürdigt und getreten
hebt sie schüchtern
und zögernd ihr haupt
von zeit zu zeit
und
immer wieder
und
immer häufiger
und
immer höher
himmelwärts
stolz zeigt sie sich
in ihrer unbezwingbaren kraft
die vogelbeere, die wilde

Dieses Aufgewühltsein, dieses Erregtsein, dieser Umgang der Menschen miteinander, führte nicht selten zu extremen Auswüchsen, Risse entstanden, die sich durch Freundschaften, Partnerschaften, Familien und Vereine zogen. Dies alles hat mich immer wieder dazu bewogen, es festzuhalten, in Worte zu kleiden und somit sichtbar und nachlesbar zu machen – meine Art der Aufarbeitung. Und so wie sich Befürworter und Gegner oft kompromisslos gegenüberstanden, traten auch typische zwischenmenschliche Eigenschaften mehr und weniger stark zum Vorschein, wurden sichtbar und hörbar bei Stammtischen, in Leserbriefen, auf dem Anrufbeantworter, in Diskussionsrunden, in kleinen Kreisen, in öffentlichen Veranstaltungen. Zorn und Verständnis standen sich gegenüber, Einsicht und Sturheit, Toleranz und Ablehnung, Geltungssucht und Sorge, Trauer und Freude, Tradition und Vision, und, und, und. Zwei Lager in einem nicht ausgewogenen Verhältnis. Vertreter „Pro“ Nationalpark waren häufig in der Minderheit – der Mainstream war „kontra“. 


Einen offenen, neutralen oder zumindest verständnisvollen Umgang mit der Situation strahlten viele Künstler aus, auch Autoren, Journalisten zum Teil. Sie begaben sich an Ort und Stelle, besuchten die toten Bäume, die abgebrochenen Stämme, sahen und fanden direkt daneben auch die kleinen, winzigen Pflänzchen und darin die Hoffnung für einen neuen Wald, den sie von Anfang an in sich trugen. Und sie ließen sich anreizen von den neu entstandenen Bildern, gaben Anstöße zu neuem Denken und nahmen mit der kreativen und oft weitsichtigen Verarbeitung in ihren Werken dem Werden und Vergehen viel von dem Schrecken, von der Angst, von der Untergangsstimmung, die sich weithin ausbreiteten. 
In Wanderungen, Exkursionen und Meditationen vor Ort versuchten die Kirchen engagiert, dem Umbruch in der Natur und im Denken theologisch-philosophisch zu begegnen, was wahrlich nicht immer leicht war. 
Ich möchte keine Begehung missen, an der ich damals beteiligt war. Jede Exkursion, jedes Bemühen um fachliche Klärung, jede Anstrengung, den Respekt, die Achtung zwischen den Menschen in rechte Bahnen zu lenken, hat mich beeindruckt. Da ging es immer um ein bisschen mehr als nur um bloßes Schauen, „sich unterhalten lassen“, „wandern“ oder „Natur genießen“. Da ging es um „Dahinterschauen“, es ging um „Tod und Leben“, sichtbar geworden, nicht mehr verdrängbar, es ging um „Sterben und Werden“ – das menschliche Leben, das eigene Leben immer mit vor Augen. Auch das schreckte die Menschen auf. 

 

Windspiele


Die Wolken haben es eilig, wechseln im Flug ihre Farbe von weiß über grau bis dunkelgrau. Dazwischen sucht sich die Sonne ihre Schlupflöcher, hellt auf, dunkelt ab in Augenblicken, Stromausfall in freier Natur. Die Spitzen der Birken wiegen sich ruhig, bedächtig, um dann, von einem Moment auf den andern, vom Windstoß erfasst, ihre Wipfel in voller Leidenschaft um sich selbst wirbeln zu lassen. Halsbrecherisch beugen sie sich ungestüm hierhin, dorthin, schnellen zurück, halten still, kurz nur, als müssten sie verschnaufen um gleich darauf den wilden Tanz von Neuem zu beginnen. Die Vogelbeere spielt mit, wirbelt ihre glühenden Büschel in die Luft, fängt sie wieder auf, klammert sich fest für einen Moment am kräftigeren Stamm der Birke, löst sich schnell wieder und dreht sich genussvoll wiegend im kreisenden Reigen. Das Vertrauen auf die Standhaftigkeit ihrer Wurzeln und auf die Biegsamkeit ihres Stammholzes ist bewundernswert. Naja, es ist ja nicht das erste Mal, dass sie zum Tanz geladen sind, und wie oft waren die Tänze noch wilder, noch feuriger. Auch die Farne unten am Boden, die vielen, vielen, tanzen begeistert mit, stützen sich gegenseitig, haken sich unter, lösen sich voneinander, wie eingeübt, alle im gleichen Schritt. Absoluter Einklang auf höchstem Niveau. Ab und zu ein kurzes, heftiges Durchschütteln bei einem allzu kräftigen Windstoß, dann nimmt der Tanz sofort wieder harmonisch seinen Verlauf. 


Dieses Schauspiel findet statt vor meinem Fenster, auf der Bühne der Natur, ohne Eintrittskarte und noch dazu in der ersten Reihe. Was will man mehr!

Ich atme durch, gehe vor die Türe. Ich bin auf der Suche nach der Musik zu diesem Spiel. Plötzlich, ja, plötzlich fehlt mir die Musik! Ich stehe draußen, und? – Stille – kein Ton, nichts! Kein Zwitschern, kein Zirpen, kein Ächzen eines Stammes – nichts. Ist große Pause? Habe ich den Gong überhört? Nein – ganz leicht, ganz vorsichtig nähert sich eine Melodie der Hütte, schwingt sich auf die Bühne vor meinen Füßen – eine Stimme, eine zweite dazu, der Wind als Dirigent, als Komponist, das Orchester aus den Blättern der Bäume und Sträucher, begleitet von den Stämmen und Ästen, von den Gräsern und Halmen und Farnwedeln, die Grillen als Bordun für den konstanten und beruhigenden Grundton des Konzerts.  


Die Musik wird lauter, schneller, heftiger – aus der Ferne mischen sich Glockenspiele, Xylophone, Vibraphone unter die Melodien, Trommeln verstärken den Rhythmus, die Sonne knipst ihre Spots an, Lichtkegel tanzen über die Bühne. Ein Paukenwirbel kündigt den Höhepunkt an, nichts hält sich mehr an seinem Platz, die Farnwedel kreisen, wirbeln, twisten, steppen, rocken, aus den Bäumen regnet es Birkenkonfetti auf die Bühne – und wie! Festtagsstimmung! – Pauke! Große Trommel! Alles steht. Absolute Stille. Verhaltenes Atmen – für kurze Zeit, schon beginnt die Show von Neuem, ungestümer noch und wilder, und wieder und wieder. 


Eine Krähe mischt sich ins Bühnenbild mit ihrem schwarz-glänzenden Federkleid, sucht Lichtkegel, um sich zu zeigen, versteckt sich schnell wieder in den finsteren Schatten. Sie stört nicht, sie nimmt teil an dem Fest, lässt sich tragen, schüttelt sich ab, verschwindet. 


Die Wolken schalten einen Gang zurück, ziehen sich zusammen. Die Sonne gewinnt mehr und mehr die Oberhand, der Wind schließt die Partitur, legt den Dirigentenstab zur Seite. Einmal noch, ganz kurz, verneigen sich die Akteure vor mir, dann ist die Vorstellung zu Ende. 
Ein Blick auf meine Uhr – ich habe die Zeit vergessen. 

Chaos oder Harmonie? 


Der Gang vor die Türe lässt sich nicht vermeiden. „Wilder Wald“. „Urwald“. Sofort tauchen Bilder auf wie „chaotisches Durcheinander – Baumriesen – Baumleichen – darüberkraxeln – unten durchkriechen – Umwege gehen – hängen bleiben – hinfallen – Skelette – Wölfe – Bären – Wildschweine – Schlangen vor allem – Dickicht – Macheten – Geister sowieso und Gespenster – Irrlichter – Räuber…“ Streicht man die Märchen-, Räuber- und Gespenstergeschichten, bleibt doch einiges von dem übrig, was „Wildnis“ ausmacht – eine große „Vielfalt“ auf alle Fälle und „Natur Natur sein lassen“, dieses mächtige Schlagwort, das hier sein Zuhause hat. Was „außen vor“ bleibt sind Begriffe wie „Monokultur“ oder „Bewirtschaftung“. Selbst der Mensch tritt in den Hintergrund. Gleich noch einmal: Der Mensch tritt in den Hintergrund. Er mischt sich nicht ein. Er hält sich zurück. Das sind ganz neue Töne, daran muss sich dieser Mensch erstmal gewöhnen, der ja bestrebt ist, zu ordnen, einzuteilen, Übersichten anzulegen oder Tabellen und Statistiken. Jetzt soll er Tiere, Pflanzen, ganze Lebensräume sich selbst überlassen? Unordnung zulassen und Chaos? Das ist neu und das verlangt nach Mut, das verlangt auch nach Vertrauen. Einfach ist das nicht und wir haben zur Genüge erlebt, wie derart mutige Menschen beschimpft, diffamiert und gar bedroht worden sind. 


„Die Natur in die Freiheit entlassen“, das heißt „Loslassen“ von herkömmlichem, angelerntem Denken, „Loslassen“ von überlieferten Strukturen, „Loslassen“ von Gewohntem und Vertrautem. Machen wir uns nichts vor, wir wissen alle, wie schwierig es ist, im familiären, im politischen, im öffentlichen Umfeld, „loszulassen“. Warum soll das ausgerechnet bei der Umgestaltung in den „wilden Wald“ anders sein! Wieder ist Mut gefordert, vor allem dann, wenn es darum geht, sich selbst zu hinterfragen. Karl Friedrich Sinner (2) formuliert dazu treffend: „Manchmal ist es ein langer Weg, den Menschen in die Wildnis zurücklegen müssen, um sich selbst zu finden!“ 


„Langer Weg“ bedeutet „lange Zeit“. Der Umgang mit dem Begriff „Zeit“ im Hinblick auf die Vorgänge in der Natur steht nicht selten im Widerspruch zum Empfinden von „Zeit“ im Alltag. Hineingepresst in zeitliche Abläufe, Termine, Tages- und Bürozeiten…ist der Mensch der Zeit ausgeliefert. Er wird von der Zeit abhängig gemacht oder er macht sich selbst von ihr abhängig. Er ist es gewohnt, in vorgegebenen Zeiträumen von Stunden und Tagen und Wochen und Jahren zu denken, selbst den Zeitraum seines Lebens hat er im Blick. Die Entwicklungen in der Natur jedoch, in der „wilden Natur“, kennen diese engen Zeiträume nicht. In der Gleichzeitigkeit von Werden und Vergehen entwickelt sich ein immerwährender Prozess, der zeitlos ist. „Ja mei! Aber ich werde das nicht mehr erleben!“, womit ein sich neu entwickelter Wald gemeint ist, oder: „Da habe ich nichts mehr davon!“, weil es „zu lange“ dauert, über das eigene Leben hinaus. Solche und ähnliche Aussagen werden dann der Vergangenheit angehören, weil sie ihren Sinn verlieren. 


waldrhythmus
und
menschenrhythmus
haben nicht
denselben takt
der dirigent jedoch
bleibt
der gleiche


Begegnung 


Husch! Was streift da meinen Blick? Vorsichtig erhebe ich mich von meinem Schreibtischstuhl, um einen besseren Blick durchs Fenster zu haben. Tatsächlich – ich habe mich nicht getäuscht: ein Hase. Ein junges Häschen ist es, das furchtlos und neugierig auf seinen Hinterläufen steht, unbeweglich, und mir in die Augen schaut. Ich halte still, wage keine Bewegung, möchte die Begegnung in die Länge ziehen, genießen. Wann schon steht man einem Wildtier so nah, so direkt vis-a-vis. Und es macht „Männchen“, um mir zu imponieren, wahrscheinlich, und es hält meinem Blick stand. Wir tasten uns ab mit unseren Blicken, beiderseits erstaunt über das außergewöhnliche und unverhoffte Zusammentreffen. Schade! – Eine ungewollte, unvorsichtige Bewegung meines Kopfes! Das Häschen setzt ab, ein letzter Blick Richtung Fenster, dann macht es kehrt und verschwindet mit einem geschickten Haken im Schutz des dunklen Farnfeldes.


Ich löse mich aus meiner gespannten Haltung, freudig erregt über diese wunderbare Begegnung. Öfter noch werfe ich in den nächsten Stunden hoffnungs- und erwartungsvoll einen Blick durchs Fenster, – vergebens. 
Freiheit


„Wildnis“ – der andauernde und sichtbare Wandel vom Leben zum Tod und vom Tod zum Leben mit unvorstellbarer Triebkraft in diesem ständigen, nie endenden Zusammenspiel innerhalb der natürlich funktionierenden Abläufe – dies zu beobachten ist faszinierend. Unvorhersehbare Stürme, Orkane, Schneebrüche, der Borkenkäfer sowieso, beschleunigen den Vorgang des „Verwilderns“, helfen dem „Urwald“ auf die Sprünge. Der „Wildnis-Prozess“ ist in vollem Gange, ohne Einfluss des Menschen und nach Regeln, die bis heute Geheimnisse bergen und noch lange geheimnisvoll bleiben werden. Diesen Wandel, diese Erneuerung, dieses „Zusichselbstfinden“ der Natur miterleben zu dürfen ist ein Privileg unserer Zeit. Mit dem hautnahen Mitfühlen wächst Achtung und Wertschätzung vor den exklusiven Oasen vorhandener und neu entstehender Biotope.
Je mehr das Leben in dieser schnelllebigen, hektischen Welt den einzelnen Menschen in seinen Fängen hält, umso mehr wächst die Sehnsucht nach Anerkennung und Ehrfurcht vor dem Wilden, dem Freien, dem Aufständischen; und dann sind sie wieder da, dürfen sie wieder da sein, die Pflanzen und Tiere, an die wir uns nicht mehr oder vielleicht gerade noch erinnern, fremd geworden oder vergessen.
„Natur Natur sein lassen“, diese Bitte, diese Aufforderung hat berührt, ist unter die Haut gegangen. Warum? Weil sie neu war. Dieser Gedanke war nicht denkbar, nicht vorstellbar, bis er umgesetzt war und vor vollendete Tatsachen stellte. Dann sorgte er für die allseits bekannte Furore. Gottseidank haben sich die Wogen gelegt, die Aggressivität ist zurückgegangen, und das tut gut, weil man – mir geht es so – befreit in die Wildnis dann gehen kann, befreit die Wildnis dann genießen kann, wenn sich die zwischenmenschlichen Störungen auf ein sachliches Miteinander geeinigt haben. 


Es ist ein guter Zeitpunkt, das Projekt „Thoreau“ im Wildnis Camp am Falkenstein mit positivem Blick in eine artenreiche, selbstständige und ungebändigt „wilde Wildnis“ abzuschließen. 


Literatur

(1) Hubert Weinzierl im Vorwort zu 
„Karl Friedrich Sinner, Günter Moser: Waldwildnis grenzenlos. Nationalpark Bayerischer Wald. Buch & Kunstverlag Oberpfalz. Amberg. 2006

(2) Wilhelm Nobbe, St. Lous, Mo., Januar 1905, im Vorwort zu:
Henry David Thoreau: Walden, Leben in den Wäldern. Kopp Verlag. Rottenburg, 2. Aufl. 2018

(3) Rüdiger Safranski: Ein Meister aus Deutschland – Heidegger und seine Zeit. Carl Hanser Verlag, München, Wien. 1994

(4) Literaturclub auf 3sat, 14.06.2020. Moderation: Nicola Steiner. Übernahme vom Schweizer Fernsehen. 

ARBER - der höchste Gipfel im Bayerischen Wald


Einem Könige gebührt der Vortritt, und so beginne denn dieses Buch vom „Wald“ mit dem Waldeskönig, dem Berge Arber, dem alten Ätwa oder Vater. Freilich ist nun gerade dieser König arm an Sagen, ärmer als mancher seiner Vasallen. Vielleicht ist es die Folge ehemaliger Abgeschiedenheit in dem ungeheuren Urwalde der Vorzeit, vielleicht ist mit Völkern verschollen Mythe und Märe. Die Uranwohner des Berges, keltische Bojer und Noriker, sie schwanden ja dahin ins Meer der Vergessenheit, und hernach stand in den Jahrhunderten der Völkerwanderung der Berg so vergessen wie unzugänglich. 
Endlich wanderte der Stamm der Bajuwaren aus dem alten Böheim herüber an die Ufer der Donau, während drüben nachdrängten die heidnischen Slaven, und schau, da beginnt sogleich Märe und folgt ausschmückende Sage. Der Berg ward zur Stätte hitziger Kämpfe; der biedere Aventinus weiß noch davon zu berichten. „Im Böhmerwald“, schreibt er, „ist der Hädweg, der höchst Berg oberhalb Passau, und auf dem ein großer See, darum die Böhmen und Bayern kriegen: wer stärker kämpft, wirft den andern in den See.“


Fünfhundert Meter unter den Felsenhäuptern des Berges liegt der dunkle, waldumschlossene Hochsee. Die Seelen der überwundenen Widersacher von dereinst sind in den See gebannt, meldet die Sage, und ein Steinwurf macht rebellisch die unheimliche Flut. Die Geister der Tiefe steigen auf, dichte Nebel brauend, ein Ungewitter sammelt sich und verscheucht mit Blitz und Donner den Frevler, der die Ruhe des Abgrunds störte. – Lieblicher ist die Sage, die von überaus kostbaren Fischen berichtet, die in der Tiefe des Sees ihr Heim gehabt haben sollen. Reinstes Gold waren ihre Schuppen, heißt es, und ihre Augen von Edelstein. Wer ein solches Fischlein fing, gewann den Wert eines Königreiches, aber auch sicheren Tod.
Auf dem Gipfel des Berges, einst vielleicht die Stätte heidnischen Götterdienstes, klebt jetzt ein gemauertes, vor Sturm und Wintergrimm mit Brettern verschaltes Kirchlein. Wie ein lichter Punkt flimmert es an klaren Tagen hinab in das Eisensteiner Tal, dessen Bewohner am Bartholomäitage jedes Jahres dahin eine Wallfahrt unternehmen. An der westlichen der vier Kuppen des Gipfels befindet sich aber noch ein „Bauwerk“, nur aus losem Gestein aufgeschichtet, eng und niedrig. Das ist auch eine Stätte, gleichsam eine Unterkunftshütte des Herrn. Der offene Raum hat keine andere Zierde als zwei Schreine, worin je eine plumpgeschnitzte Figur steht: der gegeißelte Heiland und die schmerzensreiche Mutter mit dem Leichnam. Etliche Heiligenbilder, unter Glas gemalt – verschollene Bauernkunst – bergen die Schreine außerdem.


Manch fremder Wanderer sah vielleicht nie eine so arme Kapelle. Und doch liegt ein eigener, rührender Zauber über der weltverlorenen Stätte. Welchen Ruf sie bei den Wäldlern genießt, davon zeugen zahlreiche Krücken und ein großer, hölzerner Fuß: das Bild der Gottesmutter mit dem Leichnam soll wundertätig sein. Wer Lust und Liebe hat für Wundermären, der folge den Pfaden, worauf so hoch zuberge die Krücken kamen!

Böhmerwald oder Bayerischer Wald

Rudolf Kubitschek   (*1895 †1945)

Woher der Böhmerwald kommt

Vor Zeiten war der Böhmerwald ein Teil der „Hercynia silva.“ Darunter verstanden die alten griechischen und römischen Schriftsteller meist die Waldgebirge Mitteldeutschlands, zu denen auch ganz Böhmen gehörte. Böhmen war ja damals von einem unermesslichen Walde umschlossen. Auf alten Karten ist Böhmen immer umgeben von einem breiten Kranze von Wäldern und Bergen gezeichnet. Als man später die einzelnen Teile des Herzynischen Waldes unterschied, da erhielt die südwestliche Umwallung Böhmens wiederum den Namen „Wald“, den sie im Namen als Grundwort durch alle Jahrhunderte trägt; geändert hat sich nur im Laufe der Zeiten das Bestimmungswort. Zum ersten Male nennen die alten Schriftsteller in griechischer Sprache unseren Böhmerwald unter dem Namen „Gabreta hyle“. Der Name wird heute fast allgemein für keltisch gehalten und bedeutet „Geißwald, Steinbockwald“. Er stammt von dem Volke der Kelten, die vor den Germanen in Deutschland waren; ein Keltenstamm, die Bojer, saß bis um die Zeit der Geburt Christi in Böhmen und gab dem Lande auch seinen Namen „Bojerheim“, wie wir heute sagen. Nach den Kelten saßen die germanischen Markomannen fast ein halbes Jahrtausend in Böhmen, „Baiahaima“ hieß jetzt das Land in germanischer Lautform, und die lateinischen Schriftsteller schrieben „Boiohaemum“, „Heimat der Bojer“. Nach dem Lande wurden die Markomannen bald auch „Baiohaimai“ genannt. Um die Wende des fünften und sechsten Jahrhunderts nach Christi Geburt wanderten sie aus und besetzten das Land zwischen Lech und Enns, behielten aber ihren Namen aus der alten Heimat; sie heißen jetzt „Baiwari“, lateinisch „Bajuvarii“, Bayern sagen wir heute. Der alte Name blieb dem Lande Böhmen haften, das bald slawisch wurde; in althochdeutscher Zeit heißt er „Bêheima“; in der Neuzeit wird er dann zusammengezogen zu Böhmen; bis ins 18. Jahrhundert wird in Erdbeschreibungen und Staatsschriften noch „Böheim“ geschrieben. Die lateinische Form des Namens ist „Bohemia“.

Der Name Böhmen trat nun als Bestimmungswort zum Grundwort Wald. „Silva Bohemica“, „nemus Boemiae“, „Bohemorum silva“, „saltus Bohemicus“ heißt im Mittelalter der breite Grenzwald gegen die „Ostdeutschen“, wie man in Böhmen sagte; dieser Wald galt ursprünglich in seiner ganzen Breite als Grenze, später heißt es bei Grenzbestimmungen ganz unbestimmt „bis zur Mitte des Waldes“, und erst gegen Ende des Mittelalters wurden die Grenzlinien festgesetzt. Wald und Grenze bedeutete in früheren Zeiten oft dasselbe.

Und nun zum Schluss, wie lebt der Name unserer Heimat im Volke? Die landläufige Ausdrucksweise heißt für das Gebiet zwischen den Grenzen Österreichs und der Neumarker Senke „Böhmerwald“. Die Tschechen nennen dieses Gebiet „Šumava“, das meist von einem Worte abgeleitet wird, das „aus der Ferne rauschen“ bedeutet, „šuma“ heißt dann auch Wald. Deutsch wird der Name oft mit „Waldgebirge“ wiedergegeben. Auch das Gebiet von der Neumarker Senke bis zum Egerland wird wie im Mittelalter oft noch Böhmerwald genannt, häufig auch „Nördlicher Böhmerwald“, auf bayrischer Seite „Oberpfälzer Wald“. Die Tschechen nennen dieses Gebiet im Gegensatz zur „Šumava“ „Česky les“, „Böhmischer Wald“. In Deutschland nennt man den Wald auf böhmischer und bayrischer Seite mit dem alten geschichtlichen Namen „Böhmerwald“; hie und da spricht man auch in jüngerer Zeit vom „Bayerwald“ und meint den bayrischen Anteil des Böhmerwaldes. Doch wird meist der Name „Bayerwald“ für den Landstrich zwischen dem Pfahl und der Donau gebraucht.

Der Böhmerwäldler gebraucht den Namen des Böhmerwaldes selten, auch in unserer Mundart ist das Wort nicht recht heimisch; er kennt nur Bezeichnungen seiner engsten Heimat, das „Unterland“ etwa und oberhalb Wallern das „Oberland“, eine „Waldgegend“, eine „Krummauer Seiten“ und dergleichen; kommen doch unsere Leute selten über die nächste Stadt, die für sie schlechthin „d ‘Stod“ ist, hinaus, und hinter einem Wallfahrtsort oder Viehmarkt hört für sie die Welt auf. Der Name „Böhmerwald“, der für das Volk ein gelehrter Papiername ist, ist mehr unter den Gebildeten gang und gäbe. Bei den Egerländern hört man im Volke recht oft den Ausdruck „Beïmawold“; es ist ja eine alte Geschichte, die im kleinen ebenso gilt wie im großen, dass die Nachbarn einer Landschaft den Namen geben, wo die eigenen Leute den Namen nicht brauchen. Der angrenzende Bayer hat in seiner Sprache ein Wort für seine Heimat, er nennt sie den „Woid“, den Wald; sich selber nennt er „Waitla“, Wäldler. Besonders häufig ist der Name wiederum da, wo das Wäldlervolk an die Donaubayern angrenzt. Und in diesem Worte lebt noch die alte Bedeutung des Wortes „Wald“: ausgedehntes, stark bewaldetes Gebiet; was wir heute Wald nennen, hieß vor Zeiten „Holz“. Heute noch macht der Böhmerwald wie vor Jahrhunderten seinem Namen Ehre, denn noch immer bedeckt die Hälfte des Bodens der Wald.

Bernhard Grueber/Adalbert Müller Der bayrische Wald.

Der Wanderer, welcher am rechten Ufer der Donau die große bayrische Ebene hinab schreitet, gewahrt zu seiner Linken, jenseits des Stromes, eine in unermesslicher Länge sich ausdehnende Bergkette, deren bewaldete Gipfel durch ihre runden und weichen Formen an die Gebirge Italiens und Griechenlands erinnernd, amphitheatralisch über einander emporsteigen und gegen Osten mählich in blaue Fernen sich verlieren. Diese Berge, die südlichen Ausläufer des großen Böhmerwaldes, welche ihren Fuß in den Wellen des wichtigsten Stromes Deutschlands netzen, die ansehnliche und bevölkerte Städte, wie Regensburg, Straubing und Passau, zu ihren Nachbarn haben,  man sollte denken, ihren romantischen Tälern, ihren weitausschauenden Kuppen müssten in der guten Jahreszeit Tausende von Naturfreunden zuwallen, und die Touristenzüge des neunzehnten Säkuls hätten schon längst sich hierher ergossen. Dem ist aber nicht so! Vielmehr sind die reichen Schönheiten dieser Gebirgswelt bis zur Stunde dem Nichteingebornen fast gänzlich unbekannt. Die Gegenden, wo der moosbewachsene Arber die riesigen Glieder streckt, der ernste Rachel auf seiner stillen Höhe den tiefen See wiegt, die schäumenden Wasserfälle des Rissloches, die wunderbaren Felsgebilde des Pfahles, die glänzenden Fernsichten der Rusel, das idyllische Tal des Regenflusses, die wildromantischen Schluchten der Ilz, kurz all die reizvollen Szenerien und großartigen Naturschauspiele, welche der Böhmerwald in seinem Innern birgt, sie bleiben unbesucht und unbewundert. 

Der bayrische Bauer, wenn er auf seinem fetten Acker hinter dem Pfluge einherschlendert, sieht kopfschüttelnd auf die hohen, waldesdunklen Berge hinüber, von denen ihn nur das Silberband der Donau trennt. Es beschleicht ihn, den im Schoße des Überflusses Lebenden, eine Anwandlung von Mitleid, wenn er denkt, dass in jenen dichten, rauen Forsten auch Leute wohnen, und erwägt, mit welcher Mühe und Anstrengung sie dem unebenen, spröden Boden die spärliche Ernte abgewinnen müssen. In den ferner liegenden Gauen des Vaterlandes herrschen mitunter vollends abenteuerliche Vorstellungen von der Beschaffenheit des Böhmerwaldes. Man denkt sich diesen als eine unwirtbare Wildnis, zusammengesetzt aus Fels, Wald und Sumpf, als ein deutsches Sibirien, bewohnt von reißenden Tieren und halbwilden Menschen. Darf man sich da noch wundern, wenn unsere Dichter die grauenvollsten Szenen ihrer Räubergeschichten in den Böhmerwald verlegen?


Die bayrischen Schriftsteller haben bisher noch wenig getan, diese Vorurteile zu zerstreuen...


Es dürfte demnach an der Zeit sein, dass von dieser merkwürdigen Gebirgswelt, welche so lange mitten in dem forschbegierigen Deutschland eine Terra incognita geblieben ist, endlich genauere und verlässlichere Kunde unter die Leute komme. Hiezu nach besten Kräften beizutragen, hat sich das vorliegende Büchlein zum Ziele gestellt. Aber es ist dabei so ziemlich in der Lage eines Pflanzers, der kein zubereitetes Feld vorfindet, sondern erst den wilden Boden aufreißen muss. Wer wollte von einem solchen Neubruche eine vollkommene Ernte erwarten?
Der Böhmerwald gehört zum hercynischen Gebirgssysteme, welches außer ihm auch den Harz, den Thüringer Wald, den Spessart, die Rhön, das Fichtelgebirge und das Erzgebirge umfasst. Er war schon den Römern unter dem Namen Silva Gabreta *) bekannt und unsern Vätern im Mittelalter, zugleich mit dem Fichtelgebirge, dem Thüringer Walde und dem Saalwalde, als Saltus Hyrcanus oder Nortwalt.


Den ganzen Raum zwischen Donau und Eger nimmt er ein und hat sein Nordende bei Waldsassen, wo er mit dem östlichen Teile des Fichtelgebirges und dem südwestlichen Fuße des Erzgebirges zusammenhängt. Der Hauptzug läuft von da, so ziemlich der böhmischösterreichischbayrischen Grenze folgend, zur Donau unter Passau hinab. Er sendet bedeutende Nebenarme aus, welche in Böhmen bis Theresienstadt, in Österreich bis unter Linz, in Bayern bis gegen Regensburg langen. So gestaltet sich ein Trapezoid, dessen Nordseite (WaldsassenTheresienstadt) nach Walthers Angabe etwa 20, die Westseite (WaldsassenRegensburg) 14, die Südseite (RegensburgLinz) 25 und die Ostseite (TheresienstadtLinz) 32 g. M. misst. Die Westhälfte des Gebirges ist in seinen Wasseradern der Donau, die Osthälfte der Elbe tributär. Das gesamte Böhmerwaldplateau umschließen vier Haupttäler: der Donau, Eger, Naab und Moldau. 


Der Böhmerwald, als Scheidewand zwischen das Blachland von Bayern und Böhmen hingestellt, senkt sich auf der böhmischen Seite viel schneller und weniger tief ab, weil er dort auf dem innern Hochlande aufsteht. Indes sind die Abhänge gegen Böhmen fast stetiger Wald und, weil sie an der Nord und Nordostseite liegen, schattiger, kälter und Sumpfiger, als die gegen Mittag gekehrte bayrische Seite. Jene Partie des Gebirges entspricht zunächst den Vorstellungen, welche man sich auswärtig von der Unwegsamkeit und Unwirtlichkeit des Böhmerwaldes macht. Gegen Bayern fällt das Gebirge steiler ab; im Ganzen genommen ist es aber auch hier sehr sänftig, und bis auf die Kuppen der höchsten Berge, wo die Felsblöcke es hindern würden, könnte man überall mit einem Pferde fortkommen.


Der Böhmerwald ist ein Rückengebirge, welches die mittlere Höhe von 3000’ (Fuß) erreicht; die einzelnen Gipfel ragen darüber noch um 1000 bis 1500’ hinaus. **) Die höchsten Punkte liegen größtenteils in Bayern. Der Hauptrücken besteht teils aus felsigen schmalen Kämmen, mit einzelnen aufliegenden ungeheuren Granitblöcken, teils aus breiteren Flächen, meistens mit Torfboden bedeckt. Er ist von tiefen, finsteren Talschluchten durchrissen, welche in ihrem Schoße hie und da noch unberührten Urwald bergen. Den Hauptknoten des ganzen Gebirges bilden der Rachel und Arber, wo Regen und Ilz entspringen. Indes zweiten sich von hier keine eigentlichen Arme aus, wie man denn im ganzen Gebirge keinen regelmäßigen Strich trifft. Vielmehr stehen die Berge in scheinbarer Unordnung, ohne jedoch, mit Ausnahme weniger, isoliert zu sein. Sie bilden mehr Gruppen als Ketten. Von einem Hochpunkte aus der Ferne besehen, geben diese Berggruppen das Bild eines im heftigsten Wogenschlage plötzlich erstarrten Meeres. 

Quelle: Norbert Schreiber BÖHMERWALD  Wieser Verlag

Adalbert Stifter

Die Pest in Schweinhütt

Erschütternd sind die Schilderungen der Chronisten, die von den bösen Tagen berichten, da die Pest wie in anderen Gegenden auch in unserem Walde wütete. Da war Erkranken und Sterben schier eins; die Menschen sanken dahin wie das gelbe Laub im Spätherbst. Die Friedhöfe boten nicht mehr Raum genug, die Toten zu fassen; auf freiem Felde oder auf einem Anger hob man Gruben aus und warf nachts entsetzt und ohne Federlesen zu machen hinein, die gestorben waren. Da erloschen Familien, Häuser und Höfe wurden entleert, sogar ganze Ortschaften wie jenes Dörflein an der Rinchnach, von dem heutzutage nur noch Spuren der Häuser, Gärten und Wege und des ehemaligen Friedhofes erkenntlich sind. Die Stätte hat den bezeichnenden Namen Öd erhalten und war doch früher ein blühendes Dorf.

 

Liebevoll hat Natur ihren Mantel um Ödstätten und Pestäcker geworfen; aber in den Mären des Volkes zittert noch immer die Erinnerung nach und geradezu unheimlich ist die Phantastik, womit die Sage das große Sterben umwob. Aus Welschland kam die Seuche, heißt es, und trat einher in Gestalt eines gespenstischen Weibes, riesengroß und von schrecklicher Schönheit. Nur mit etlichen schmutzigen Fetzen war die Nacktheit verhüllt, und um ihr Haupt summte wie eine Wolke der Schwarm der giftigen Pestfliegen. Die sendete die Entsetzliche aus, Menschen und ihre Speisen zu verderben. Da hatte dann der Tod reiche Ernte und in manchen Orten ging er leibhaftig und jedermann sichtbar um, bezeichnete sogar die Wohnungen, wo er sein Werk vollendet hatte oder zog den Totenwagen vor die Türe, fürsorglich mit der Deichsel gegen den Friedhof gerichtet.

 

Infolge der Drangsale flüchtete die Bevölkerung in die Tiefe der Wälder. Doch auch dahin folgte der Würger. Die Bewohner der Ortschaft Ölberg am Büchelstein hatten sich, wie es heißt, eine Köhlerhütte erkoren, dort ihr Dasein zu fristen. Noch gingen abends die Flüchtlinge gesund und getrost schlafen; aber ein achtzigjähriger Greis, der sich unter ihnen befand, war es allein, der am Morgen erwachte - erschauernd; denn der unerbittliche Tod hatte alle Übrigen stillgemacht. Auf dem Stroh, dem Reisig lagen sie da, schwarz und mit den entsetzlichen Gebärden des Sterbens. - Solches empörte den Alten, und als sich der Würger eben auch über ihn hermachen wollte, ergriff der Bedrohte einen Knüttel und kämpfte ergrimmt, bis jener das Weite suchte. Der wagte sich auch späterhin nicht an den Greis, bis endlich selbst zu sterben wünschte, der Lebensmüde.

 

Grotesk klingt diese Sage, doch liegt eine Wahrheit in ihr, nämlich die, dass Herzhaftigkeit und aufgebäumte Lebenskraft in Drangsalen solcher Art schon oft Wunder getan haben. Und wie in jedem Unglück auch ein Humor liegt, so hat selbst in den schauerlichen Pestsagen sein Wesen der drollige Geselle. In einem Dörflein an der Rinchnach, das den unfeinen Namen Schweinhütt führt, war es. Dort ging in der bösen Zeit der Tod nämlich auch leibhaftig und männiglich sichtbar um. Er mähte nach Herzenslust. Zu Ostern konnten in Regen von ganz Schweinhütt und dem nahen Rinchnachmünd nur ein Dutzend Personen beim Gottesdienste gezählt werden. Endlich sollte auch die alte Wirtin von Schweinhütt dem Würger anheimfallen. Die hatte jedoch einen zähen Lebensmut und stak überdies voller Listen. Sie flüchtete sich und stieg mit einem Besen bewaffnet rücklings die Bodenstiege hinauf, damit so der Tod getäuscht werde. Im Übrigen war sie entschlossen, bis zum letzten Besenreis um ihr Leben zu kämpfen. Als der Entsetzliche schon das ganze Haus nach ihr ausgesucht hatte, kam er endlich auch an die Dachbodentreppe und sah die abwärtsführenden Fußtritte. „Herab spür’ ich sie, aber nit hinauf;“ sagte er und ging weiter, anderswo zu suchen. Die Wirtin von Schweinhütt überlistete sogar den Tod und war schließlich, wie die Sage märt, die Einzige im Wald, die die Pest überlebte.

 

Emerenz Meier

Emerenz Meier

(*1874- †1928)

 

 

Sterbelied eines Wäldlermägdleins

 

 

Und muß ich dich verlassen,

So lebe wohl, mein Wald.

Die rauhen Stürme nahen,

Und Winter wird es bald.

 

O traurig ist das Scheiden,

Gilt es für immer gar!

O traurig ist das Sterben,

Wenn kurz das Leben war.

 

Die Nacht bricht an, es dunkelt,

Der Wald rauscht immerzu,

Ein Stern hoch oben funkelt,

Winkt mir zur ew'gen Ruh.

 

Der Waldler - Von Sepp Paukner

„Was tun sie", wurde Herr K. gefragt, „wenn Sie einen Menschen lieben?" „Ich mache einen Entwurf von ihm", sagte Herr K., „und sorge, dass er ihm ähnlich wird". „Wer? Der Entwurf" „Nein", sagte Herr K., „der Mensch".

(Bert Brecht)

Jahrhundertelang mieden die Menschen den „Wald". Sie siedelten dort, wo der Boden mehr Ertrag brachte und wo das Klima milder war — in den Flusstälern und im Hügelland. Nur vereinzelt drangen Jäger und Fischer in den Urwald und in die Sümpfe des „Waldes" ein.
Erst als andere Gebiete bereits weitgehend gerodet waren, kamen Menschen in den Bayerischen Wald. Oft erhielten sie Steuerfreiheiten und Begünstigungen, wenn sie bereit waren, in den „Wald" zu ziehen. Von einzelnen Orten im „Wald" lesen wir in alten Urkunden, „Verbrecher" (was auch immer die Herrschaften darunter verstanden) seien gezwungen worden, hier zu wohnen. Immer dann, wenn sich die Bevölkerung vermehrte, suchten „nach-geborene" Bauernsöhne und Bauerntöchter Land, das sie urbar machen konnten, und sie zogen in den „Wald".
Allmählich wurden diese Menschen „Waldler". Aufgrund von Gemeinsamkeiten der Lebensbedingungen entwickelten sich eigene Lebensweisen, eine eigene Kultur der Menschen im „Wald", die sich in vielem von der Lebensweise und Kultur des reichen Donautals und in manchem von der Lebensweise und Kultur benachbarter Landschaften Böhmens, Österreichs und der Oberpfalz abhoben.

Die Menschen wurden mit ihrer Heimat vertraut. Sie lernten auf den steinigen Böden Getreide anzubauen, sie prägten sich ein, wann in ihrem Dorf der warme und wann der kalte Wind aufkam, und sie sahen, wann es Zeit war, den Hafer anzubauen. Sie lernten einander kennen und flochten ihr „soziales Netz" aus Verwandtschaften, Nachbarschaften und Abhängigkeitsverhältnissen. Diese Vertrautheit mit der Landschaft und mit den Nachbarn war eine Grundvoraussetzung des Überlebens. Aber auch, als der „Wald“ besiedelt war, ging lange noch keiner ganz freiwillig dahin. Josef Blau verwies auf die Klage eines Adeligen aus dem 16. Jahrhundert, dass mancher Hof im Flachland größeren Ertrag erbringen würde als die sieben Dörfer der Herrschaft Zwiesel. Im gleichen Jahrhundert erklärte der Abt von Niederalteich den Zwieslern, die um die Neubesetzung einer Pfarrstelle gebeten hatten: „Was soll ein Pfarrer bei Euch Zwieselern tuen? Er muss nur Tannenzapfen essen". Zwar entwickelten sich im Bayerischen Wald die Leinwandweberei und die Stierzucht zu über-regionaler Bedeutung, und Handelswege nach Böhmen führten durch den „Wald", insgesamt aber galt er als ein ärmliches Gebiet, unwegsam und ohne „Kultur".

Als das Bürgertum der Städte begann, die Welt zu entdecken und sich durch Reisen zu bilden, galt der „Wald" als einer Reise unwürdig. Wir kennen aus dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert bereits eine ganze Reihe von Reisebeschreibungen. Die altehrwürdigen Reichsstädte Bayerns, darunter auch Regensburg, gehörten mit zum Standardprogramm von Bildungsreisenden. Der Bayerische Wald gehörte in dieser Zeit nicht dazu.

Goethe, der sich auf der Durchreise auch in Regensburg kurz aufhielt und sich über Regens-burg einen vielzitierten Satz notierte, reiste nicht in den Bayerischen Wald. Ernst Moritz Arndt, der 1801 auf der Donau von Regensburg nach Passau reiste, bewunderte die Vorberge des Bayerischen Waldes, ging aber nicht in ihn hinein. Die einzige Reisebeschreibung dieser Zeit, in der etwas mehr über den Bayerischen Wald zu lesen steht, stammt von Karl Julius Weber. Über seine Fahrt auf der Donau von Regensburg nach Passau notierte er 1828: „Im Norden nähern sich die Waldgebirge Böhmens, deren Bewohner im Landgericht Grafenau so wild sein sollen wie ihre Wälder, wild wie Kalabresen, Sardinier und Korsen; neben Vieh-zucht, Flachs- und Kartoffelbau fertigen sie Holzwaren, womit sie überall hausieren, wie mit Schwämmen und Ameiseneiern. Bei Wolfstein ist der hohe Dreisessel die Grenze zwischen Böhmen, Österreich und Bayern, und auf der neu angelegten Straße von Deggendorf nach Regen über den Berg Rusel genießt man im Gasthof eines der schönsten Panoramen Bayerns."

Das Bild, das sich die Menschen, die nicht im „Wald" oder in seiner Nachbarschaft lebten, vom Bayerischen Wald und vom Böhmerwald gemacht haben, dürfte in dieser Zeit allerdings weniger von Reisebeschreibungen geprägt gewesen sein, sondern vor allem von Friedrich Schiller, der den Böhmerwald als Schauplatz seines Dramas „Die Räuber" wählte. Finsterer, unwegsamer Wald mit wilden Räubern — das dürfte wohl das gängige Bild des Bayerischen Waldes in dieser Zeit gewesen sein.

Wenn wir zuverlässigere Berichte über den Bayerischen Wald aus dieser Zeit suchen, dann müssen wir uns anderen Autoren zuwenden. Die ersten ausführlicheren und exakteren Nachrichten finden wir bei einem bayerischen Statistiker, bei Joseph Hazzi.

Hazzi, in der Holledau geboren und aufgewachsen, ein aufklärerischer Beamter und Publizist, veöffentlichte 1801 bis 1805 die „Statistischen Aufchlüsse über das Herzogthum Baiern". Sein Anliegen war es, durch die Vermittlung genauer Kenntnisse der Zustände im Land Grundlagen für Reformen zu schaffen. Hazzi beschrieb nicht im Vorüberreisen — er studierte die Geschichte und die seinerzeitige Situation Bayerns und er konnte sich im Rahmen zahlreicher Dienstreisen an Ort und Stelle ein Bild von den bayerischen Landschaften machen.

Die Darstellungen der einzelnen Teile des Bayerischen Waldes bei Hazzi ähneln sich in vielem. Es ist daher gerechtfertigt, einige typische Schilderungen zu zitieren. Seine Beschreibung des Landgerichts Zwiesel beginnt mit den Sätzen: „Blickt man in dieser Gegend um sich, so glaubt man so ganz in eine sibirische Wüstenei sich versetzt. Der immerwährende Wald und die hohen schwarzen Gebirgsaufthürmungen scheinen hier die Erde zu begrenzen, so wie die kleinen hölzernen Hütten eher einen Aufenthalt wilder Thiere als gesitteter Menschen vermuthen lassen: Angst und Beklemmung überfällt den Wanderer, er glaubt in das traurige Reich des Pluto sich verirrt zu haben".

Ähnlich heißt es in seiner Beschreibung des Landgerichts Kötzting: „Die kleinen Dörfer mit ihren kleinen hölzernen Häusern, die ganz mit Holz umringt und mit schweren Schindeldächern belegt sind, bieten einen widerlichen Anblick dar. (...) Alles ist mit Rindsblut kohlschwarz angestrichen, ohne Meubeln, voll Schmuz. Und dann erst der Stall! Man weiß nicht, wer schlechter wohnt, das Vieh oder die Menschen!!" (Alte Schreibweise wurde in alten Texten teilweise beibehalten, Anm. des Herausgebers).…

Versuchen wir nun zum Schluss, die wichtigsten Erkenntnisse, die wir in dieser Studie gewonnen haben, zusammenzufassen.

1. Das Leben im „Wald" war stets von sozialer Ungerechtigkeit und von Armut bzw. geringerem Wohlstand gegenüber den Ballungszentren geprägt. Es haben zu viele Menschen den Bayerischen Wald verlassen, es sind zu viele ausgewandert, zu viele als Arbeiter in die Großstädte gegangen, als dass sich die Vorstellung einer wesenseigenen Heimatverbundenheit aufrecht erhalten ließe. Sicher, die Vertrautheit der Umgebung, die Sprache der Heimat, das Gewohntsein von Umgangsformen, das Kennen der Landschaft, haben den Menschen Halt gegeben, haben Menschen dazu gebracht, im „Wald" zu bleiben oder nur ungern wegzugehen. Wenn sich aber Heimatliebe auf die Vertrautheit mit einer Umgebung beschränkt, dann hätte auch ein Strafgefangener, der Angst hat vor der Entlassung, eine „Heimatliebe" zur Straf-anstalt. Heimat ist jedoch mehr als das Vertraute, Heimatliebe mehr als die Zuneigung zum Gewohnten.


Zur Heimat gehören Möglichkeiten der persönlichen Entfaltung, zur Heimat gehören Arbeits-plätze, Bildungsmöglichkeiten, gute ärztliche Versorgung, menschenwürdige Wohnungen — all dies konnte der „Wald" vielen Menschen nicht geben, kann es heute noch nicht überall. Menschen verließen und verlassen den „Wald", weil er ihnen nicht Heimat sein konnte und kann.

2. Man ist versucht, zu übersehen, dass viele „Waldler" Münchner, Nürnberger, Ruhrkumpel geworden sind, ihre Herkunft und Identität aufgegeben haben. Wer wissen will, wie es um die Heimatliebe der „Waldler" gestanden hat, wird in Liederbüchern Heimatlieder suchen. Er wird dort Lieder finden, die gedichtet und gesungen wurden von Menschen, die sich „auswärts" schwer getan haben, sich einzufinden, Lieder von einer glücklichen (Kinder-)Heimat und einer rastlosen ungemütlichen Welt.  Man ist versucht, zu verallgemeinern, nur die zu sehen, die Heimweh gehabt haben, die vielen zu übersehen, die keine derartigen Lieder nötig hatten.

3. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts existieren zwei verschiedene und völlig gegensätzlich erscheinende Bilder vom „Wald" und den „Waldlern". Seit der Zeit der Aufklärung kennen wir die Vorstellung vom wirtschaftlich und geistig zurückgebliebenen, rückständigen und entwicklungshilfebedürftigen „Waldler". Seit Grueber, Müller und Stifter gibt es die Bewunderung der „Waldler" als einfache, aber glückliche, „wahre" Menschen. Diese beiden Vorstellungen — so gegensätzlich sie scheinen — hängen eng zusammen. Der „wahre" Mensch ist nur deshalb der „wahre" Mensch, weil er unterentwickelt ist. Der unterentwickelte Mensch kann erst dann richtig als unterentwickelt erscheinen, wenn er zugleich stets als rückständiger „wahrer" Mensch gesehen wird.

4. Viele Menschen arbeiten daran, die Heimat zu „pflegen". Sie erforschen alte Sitten und Ge-bräuche, altertümliche Wendungen des Dialekts, alte handwerkliche Techniken, frühere Haus-formen, Weltanschauungen und Denkweisen vergangener Zeiten. Sie versuchen, das, was ihnen davon wertvoll und nützlich erscheint, am Leben zu erhalten oder zu neuem Leben zu bringen. Sie haben die Unterstützung des Staates: sie erhalten Geld, sie werden öffentlich geehrt, sie haben über den Schulunterricht, über Fernsehen und Radio und besondere Institutionen der „Heimatpflege" viele Möglichkeiten, auf das Bewusstsein der Menschen einzuwirken. Dagegen lässt sich nichts sagen, das ist zuerst einmal gut.

Liebe ist — nach Brecht — das Formen produktiver Bilder. Wer einen Menschen liebt, wird ihn nehmen, wie er ist, er wird ihn aber nicht so lassen, wie er ist. Wer einen Menschen liebt, entwickelt Vorschläge, Entwürfe, wie sich der Geliebte weiterentwickeln kann. Wer aus heimatkundlicher Forschung heraus für die Gegenwart und die Zukunft Wertvolles und Nützliches von Wertlosem und Schädlichem trennt, das kulturelle Erbe kritisch betrachtet, tut etwas Richtiges. Es ist sinnvoll, Bilder vom „Wald" und von den „Waldlern" zu formen. Diese Bilder müssen jedoch nützlich sein, sie müssen den Menschen helfen, ihr Leben besser zu bewältigen. Diesen Anforderungen wird die „Heimatpflege" — seit es sie gibt — wenig gerecht. Die „Heimatpflege" kümmert sich um die Freizeit der Menschen, um Liederabende, Bauerntheater, Festtagstracht. Sie kümmert sich zu wenig um die Arbeit, die Menschen heute leisten müssen. Die „Heimatpflege" „pflegt" Lieder, Sagen, Gebräuche, Feste, die aus einem verlorengegangenen Zusammenhang gerissen wurden, sie neigt dazu, sie nur zu konservieren und zu restaurieren, anstatt sie weiterzuentwickeln. Durch ihr Beharren auf der „Echtheit" von Liedern, Erzählungen, brauchtümlichen Handlungen hat sie zu oft schon Wertvolles „totgepflegt". Ein Lied über die Waldarbeit mit „Hack und Sapi" mag historisch belegbar sein, dennoch ist es nicht mehr „echt", dieses Lied heute zu singen, weil „Hack und Sapi" heute im Museum stehen und durch Motorsägen und Entrindungsmaschinen ersetzt sind. Dasselbe gilt vom „Wald", „da wo das Stutzerl knallt" und wo das Häuserl noch mit Schindeln gedeckt ist. „Heimatpflege" müsste bedeuten, die "Weiterentwicklung, die Schaffung „echter" Lieder, Erzählungen, brauchtümlicher Handlungen, Feste usw. zu unterstützen. Das Bild vom „Waldler", das uns die „Heimatpflege" seit ihrer Entstehung anbietet, soll uns dazu bringen, gehorsam zu sein, Ungerechtigkeit als gottgewolltes Schicksal („Gottes unerforschlicher Ratschluss") zu erdulden, den Ort, an dem wir aufgewachsen sind, nicht zu verlassen, auch wenn wir woanders besser leben könnten, nicht nach einem anderen sozialen Rang zu streben, vielmehr genügsam zu sein und die vorgegebene Ordnung der Welt zu wahren.


Fazit
Der „Wald" braucht selbstbewusste, stolze, wissbegierige, arbeitsame, freundliche Menschen, die zusammenhalten, gerade auch, wenn es gilt, gemeinsame Interessen durchzusetzen.
Der „Wald" braucht keine gefügigen Untertanen. Arbeiten wir daran, dass der „Wald" in Zukunft zu einer wirklichen Heimat wird. Begnügen wir uns nicht mehr mit unserer Rolle als „stille" Arbeitskraftreserve, als Bedienungspersonal, als kernige Nationaldeppen und schrullige Wurzelseppen.

Lassen wir es nicht zu, dass Leute uns so unmenschlich und herablassend behandeln, wie sie ihrerseits behandelt worden sind. Schlagen wir ihnen stattdessen vor, gemeinsam gegen die Ungerechtigkeiten anzugehen.

Druckversion | Sitemap
© Bayer.Wald- Verein | Sektion Lindberg-Falkenstein e. V.